Personenfreizügigkeit: Vorsicht Denkfallen!

In der Diskussion um die Personenfreizügigkeit drohen vielerlei Denkfallen. Wer sie kennt, rät den Schweizern und Schweizerinnen, die Zuwanderung wieder selbst zu gestalten.

Über Zuwanderung reden viele, wie wenn sie entweder gut oder schlecht wäre. Dabei hat sie offensichtlich Vor- und Nachteile und ist äusserst vielfältig. Folglich müssen wir überlegen, wie wir das Beste aus ihr machen können. In der anstehenden Abstimmung geht es darum, ob weiterhin Personenfreizügigkeit zwischen der Schweiz und der EU herrschen soll. Die folgenden Argumente zielen ausschliesslich auf diese Frage und keinesfalls auf Zuwanderung an sich.

Im Vergleich zu klug gelenkter Zuwanderung senkt Personenfreizügigkeit die Lebensqualität der grossen Mehrheit in der Schweiz. Das folgt ganz unabhängig von allen Vorteilen von Zuwanderung aus der ökonomischen Logik: Menschen ziehen dorthin, wo die Lebensqualität hoch ist. Falls das dort die Lebensqualität noch steigern würde, zögen noch mehr Menschen dorthin. Das brächte noch mehr Lebensqualität und Zuwanderung. Beide würden explodieren, und bald würde halb Europa in diesem Paradies wohnen.

Offensichtlich aber funktioniert die reale Welt anders. Schnelles Bevölkerungswachstum bringt Füllungskosten: Wichtige Produktions- und Wohlstandsfaktoren wie Boden, Infrastruktur, Umweltgüter und Selbstversorgungsziele werden knapper und teurer, wodurch die Lebensqualität in den Zuwanderungsländern auf das Niveau der Auswanderungsländer plus den Wanderungskosten sinken muss. Verlierer sind die Normalbürger. Ihnen nützt gute Politik und hohe Attraktivität der Schweiz nichts mehr, weil sie durch mehr Zuwanderungsdruck und Füllungskosten neutralisiert werden. Gewinner sind diejenigen, die vom Bevölkerungswachstum durch steigende Budgets, Umsätze und Füllungseffekte profitieren: Regierungen, Spitzenverbände, Grossbaugrundbesitzer und manche Manager. Ihr Loblied auf die Personenfreizügigkeit ist voller Denkfallen. Hier sind zwanzig besonders verfängliche Denkfallen und die befreienden Gegenargumente:

Die 20 gefährlichsten Denkfallen

Denkfalle 1 – «Die Personenfreizügigkeit senkt den Fachkräftemangel.» Wenn das wahr wäre, wäre der Fachkräftemangel nach zwölf Jahren voller Personenfreizügigkeit längst gestillt. Die Personenfreizügigkeit erlaubt es anfänglich, offene Stellen einfacher oder billiger zu füllen. Das zieht neue Investitionen und Firmen an. Diese stellen auch Einheimische an, die sonst bei anderen Firmen gearbeitet hätten und nun dort fehlen. Zugleich schafft die Zuwanderung neue Nachfrage, z.B. für den Bau von Wohnraum, und so „Bedarf“ für noch mehr Fachkräfte und Zuwanderung. In der Summe bleibt der Fachkräftemangel in etwa konstant.

Denkfalle 2 – «Die Schweiz ist auf die Zuwanderer angewiesen.» Natürlich bringen manche Zuwanderer der Allgemeinheit viel. Aber sie könnten auch bei einer vernünftigen eigenständigen Zuwanderungspolitik kommen. Für sie wäre die Schweiz dann dank tieferen Füllungskosten sogar noch attraktiver. Zudem gilt: Die Personenfreizügigkeit macht die Einheimischen knapp. Diese sind in vielen Berufen aus ausbildungsbedingten, rechtlichen oder sprachlichen Gründen übervertreten, etwa bei Anwälten, höheren Staatsstellen, der Polizei oder der Kleinkindererziehung. Deshalb sind sie in den anderen Bereichen untervertreten. Je höher die Zuwanderung ist, desto mehr Einheimische braucht es in den typischen Einheimischenberufen, und desto knapper werden sie in den anderen Bereichen.

Denkfalle 3 – «Zuwanderer zahlen dem Staat mehr Steuern und Abgaben, als sie ihn kosten.» Sobald Zuwanderer Kinder in öffentlichen Schulen haben, müssen sie sehr gut verdienen und sehr lange bleiben, bis es sich für die Schweiz finanziell lohnt. Eine vom Bund bezahlte Studie von Nathalie Ramel und George Sheldon fand 2012, dass die heutige EU-Zuwanderung den Staat kurzfristig entlastet, langfristig aber eher belastet. Dabei nehmen die Autoren an, dass zwar die Staatseinnahmen mit der Bevölkerung wachsen, es aber keine Füllungskosten gibt und ein gewichtiger Teil der Ausgaben, u.a. für Verteidigung, Polizei, Justiz, Kultur und Entwicklungshilfe, fix und von Einwohnerzahl und Staatseinnahmen unabhängig sind. Mit realistischeren Annahmen wäre der Effekt der Personenfreizügigkeit deutlich negativer.

Denkfalle 4 – «Zuwanderer helfen uns, unsere Staatsschulden zu tragen». Gemäss Eidgenössischer Finanzverwaltung haben wir 286 Milliarden Franken Staatsschulden (Stand 2017). Doch das ist nur brutto. Unser Staat hat auch Vermögensgüter und Forderungen von 582 Milliarden und damit ein Reinvermögen von 296 Milliarden, also rund 35’000 Franken pro Einwohner. Zuwanderer übernehmen deshalb keine Schulden, sondern Vermögen.

Denkfalle 5 – «Gemäss manchen Studien steigert die Personenfreizügigkeit auch das Pro- Kopf-Einkommen». Diese Studien vernachlässigen die Füllungskosten. Diese senken zwar die Lebensqualität, blähen aber das Bruttoinlandprodukt oft noch auf, so etwa die „Verbetonierung der Landschaft“. Zudem können die Effekte der Personenfreizügigkeit nicht zuverlässig von anderen Einflüssen getrennt werden. Sie wurde gestaffelt über viele Jahre umgesetzt, und zeitgleich brach die Weltwirtschafts- und Finanzkrise aus und hat die Schweiz mit der Schuldenbremse und der Neugestaltung des Finanzausgleichs zwei für ihre Standortattraktivität entscheidende Reformen umgesetzt.

Denkfalle 6 – «Die Füllungskosten sind nicht durch Studien belegt.» Der Bundesrat hat sie nicht analysieren lassen, obwohl sie offensichtlich die Welt prägen: So sind Zug oder München besonders attraktive Standorte. Aber warum ziehen nicht viel mehr Leute nach Zug oder München? Weil aus ihrer Sicht die hohen Boden- und Mietpreise und all die anderen Füllungs- kosten die Vorteile übersteigen.

Denkfalle 7 – «Freihandel ist gut, also ist auch Personenfreizügigkeit gut.» Freihandel von Gütern und Dienstleistungen erhöht das Gesamteinkommen bei konstanter Einwohnerzahl und so das Pro-Kopf-Einkommen. Freier Personenverkehr erhöht das Gesamteinkommen bei steigender Einwohnerzahl. Da dieses bestenfalls proportional zur Bevölkerung wächst, nimmt das Pro-Kopf-Einkommen nicht zu – und mit Füllungskosten fällt es.

Denkfalle 8 – «Die Wirtschaft will Personenfreizügigkeit, also muss diese gut sein.» Zuwanderung hat Vor- und Nachteile. Die Vorteile fallen grossenteils privat bei einzelnen Firmen und Managern sowie den Zuwanderern selbst an. Hingegen treffen die Nachteile – die Füllungskosten – die Allgemeinheit. Damit ist es wie beim Umweltschutz: Obwohl viele Firmen die Umwelt möglichst frei nutzen möchten, ist freie Umweltnutzung gesellschaftlicher Unsinn.

Denkfalle 9 – «Zuwanderung schadet nicht, weil die Schweizer Arbeitsbedingungen und Löhne stets eingehalten werden müssen.» Alle flankierenden Massnahmen und Kontrollen können bestenfalls verhindern, dass die vertraglichen Löhne nicht unterboten werden. Aber sie können nicht verhindern, dass die vertraglichen Löhne weniger schnell steigen, als sie ohne Personenfreizügigkeit steigen würden. Und sie haben keinerlei Wirkung auf die Füllungskosten.

Denkfalle 10 – «Mindestlöhne schützen die einheimischen Arbeitnehmer wirksam.» Hohe Mindestlöhne machen die Schweiz für gut qualifizierte Zuwanderer nur noch attraktiver. Hingegen sind weniger qualifizierte Einheimische zu den hohen Mindestlöhnen nicht mehr konkurrenz- fähig und drohen verdrängt zu werden. Zudem werden Lohnvorschriften zuweilen umgangen. Für Zuwanderer ist es oft einfacher, Vorschriften z.B. durch Scheinselbständigkeit zu umgehen. Somit können die Lohnvorschriften zum gefährlichen Bumerang für die einheimischen Arbeitskräfte werden.

Denkfalle 11 – «Zuwanderer kommen nur, solange es genügend neue Stellen für sie gibt.» Zuwanderer bewerben sich nicht nur auf neu geschaffene, sondern auf alle offenen Stellen. Deren Zahl wird von der natürlichen Fluktuation durch Jobwechsel und Pensionierungen geprägt. Auch in schlechten Zeiten ohne Stellenwachstum sind jährlich 400’000 Stellen neu zu besetzen. Deshalb dürfte dann die Zuwanderung nicht sehr stark zurückgehen und drohen ernsthafte Arbeitsmarktprobleme.

Denkfalle 12 – «Gegen Bodenknappheit wirkt innere Verdichtung.» Beim heutigen Wachstum kann die Bevölkerung nur noch für wenige Jahre in bestehende Bauzonen hoher Qualität hineinverdichtet werden. Schon bald muss in weniger attraktiven Zonen gebaut und jährlich viel Land neu eingezont, oder die Zuwanderung rabiat gestoppt werden. Beides ist schlecht.

Denkfalle 13 – «Gegen Infrastrukturüberlastung hilft Infrastrukturausbau.» Der Ausbau der Infrastruktur ist mit überproportionalen Kostensteigerungen verbunden und dauert mit Planung, Ausschreibung, Rechtsverfahren und Bau oft 20 Jahre und mehr. Zudem drohen teure Fehler. Wie die Erfahrung aus den 1960er Jahren lehrt, wird bei schnellem Wachstum oft das Falsche am falschen Ort gebaut.

Denkfalle 14 – «Bevölkerungswachstum muss nicht unbedingt mehr Umweltbelastung und Verkehr bringen». In aller Regel gilt: Konsum und Produktion wachsen proportional, und die Umwelt- und Verkehrsprobleme überproportional mit der Bevölkerung. Die Umweltbelastung wächst nur nicht voll mit, wenn die Umweltschutzanstrengungen und so die Umweltschutzkosten wachsen, oder wenn Umweltschutz dank Bevölkerungswachstum einfacher und billiger wird. Das ist aber die Ausnahme.

Denkfalle 15 – «Die Zuwanderung sinkt, wenn die einheimischen Ressourcen – Frauen, Alte, Arbeitslose, etc. – besser in den Arbeitsmarkt integriert werden.» Die Zuwanderung in die Schweiz ist hoch, weil sie ihre Ressourcen besser als andere Länder nutzt, nicht weil sie besonders ineffizient ist. Wenn sie nun ihre Ressourcen noch besser nutzt, steigt die Standortattraktivität, drängen mehr Zuwanderer und Firmen in die Schweiz und wachsen die Füllungskosten. Effizienz lohnt sich nicht mehr.

Denkfalle 16 – «Die Zuwanderung bringt riesige Bodenwertgewinne; diese können umverteilt werden.» Die EU-Definition der PFZ verbietet jede Form der Diskriminierung von Ausländern. Abgeschöpfte Gewinne dürfen deshalb nicht gezielt an die bisherigen Einwohner gegeben werden, sondern müssen mit den Neuzuwanderern geteilt werden. Das bringt zusätzliche Zuwanderung und Füllungseffekte.

Denkfalle 17 – «Auch Schweizer nutzen die Personenfreizügigkeit: rund eine halbe Million lebt in der EU.» Von diesen Personen haben bloss 140’000 nur einen Schweizer Pass. Die anderen sind Doppelbürger – grossenteils Menschen, die als Zuwanderer in der Schweiz eingebürgert oder als Doppelbürger geboren wurden und danach in die EU zurückgewandert sind. Hingegen leben in der Schweiz über 1,4 Millionen EU-Bürger ohne Schweizer Pass, also zehnmal mehr als Schweizer in der EU.

Denkfalle 18 – «Die Bilateralen I sind gefährdet». Bund und Wirtschaftsverbände übertreiben den Nutzen der Bilateralen I weit. Die Verträge betreffen einen viel kleineren Bereich der Exporte und bringen viel kleinere Erleichterungen als stereotyp behauptet. Bei ihrem Wegfall gäbe es für die Firmen einfache Anpassungsmöglichkeiten. Zumeist würde es reichen, eine EU-Niederlassung zu gründen; die allermeisten Firmen haben schon eine. Auch für den Staat gäbe es wirkungsvolle Pläne B, ähnlich wie beim Streit um die Börsenäquivalenz. Tatsächlich finden auch die vom Bund beauftragten Gutachten, dass die Bilateralen I nur wenig wert sind. Deutlich wird das im Gutachten von Ecoplan (2015). Es berechnet den Schaden eines Wegfalls der Bilateralen I inklusive Personenfreizügigkeit über 18 Jahre. Pro Kopf gerechnet sind die Effekte minimst. Das über 18 Jahre kumulierte Minderwachstum des Einkommens pro Arbeitskraft wäre 0,7 Prozent, also 0,039 Prozent jährlich – und das obwohl die Füllungskosten und viele Anpassungsmöglichkeiten nicht berücksichtigt wurden.

Denkfalle 19 – «Wir haben ja innerhalb der Schweiz Personenfreizügigkeit. Also muss sie gut sein.» Personenfreizügigkeit ist dann gut, wenn es wenig Füllungskosten gibt. Dafür darf die Wanderung nicht systematisch und langfristig in einzelne Länder oder Regionen fliessen. Das trifft nur zu, wenn die Unterschiede klein oder jeweils schnell abgebaut werden. Dafür müssen die Mitglieder des Personenfreizügigkeitsraums ähnlich leistungsfähige politische Institutionen haben und schnell voneinander lernen. Das ist innerhalb der Schweiz gegeben, aber nicht zwischen der Schweiz und der EU.

Denkfalle 20 – «Personenfreizügigkeit ist ein Grundpfeiler der EU und unverhandelbar». In vielen EU-Ländern gibt es de facto keine Personenfreizügigkeit. Sie verbietet die Diskriminierung von EU-Zuwanderern und verlangt für sie marktgerechten Zugang zu Arbeitsstellen und Wohnraum. Statt Ausländern werden nun in vielen EU-Ländern die „Outsider“ diskriminiert, die Zuwanderer plus die eigenen Jungen. Die „Insider“ – diejenigen mit Arbeitsstelle und Wohnung – werden vor Kündigung, Lohn- und Mietdruck so stark geschützt, dass die Anreize der Investoren schrumpfen, neue Arbeitsstellen und Wohnungen zu schaffen. Deshalb gibt es in vielen EU-Ländern praktisch keine EU-Zuwanderung und sind die Lebenschancen der Jungen tief: Jugendarbeitslosigkeit, jahrelange Praktika, leben bei den Eltern bis weit über 30, etc. Die wenigen Länder mit offenen Märkten leiden zunehmend unter EU-Zuwanderung. Grossbritannien hat die EU vor allem wegen der EU-Zuwanderung verlassen, obwohl sie weit tiefer als in der Schweiz war.

Folgerungen

Wir müssen die EU-Personenfreizügigkeit beenden und die Zuwanderung wieder selbst und möglichst klug gestalten. Ich vertrete dafür Folgendes:

Die Zuwanderung aus der EU und ausgewählten Drittländern soll möglichst frei von bürokratischen Hürden sein, aber sie soll nicht gratis sein. Neuzuwanderer sollen während drei bis fünf Jahren eine kleine finanzielle Zusatzabgabe leisten, ähnlich einer Kurtaxe. Ein Betrag von 10 bis 15 Franken pro Tag würde die Zuwanderung wirkungsvoll senken und lenken. Es kämen diejenigen, die der Schweiz viel bringen und denen das Zuwandern viel bringt. Die Abgabe würde einen kleinen Teil der Wanderungsgewinne der Zuwanderer an die Schweiz fliessen lassen. Gleichwohl bliebe ihre Steuer- und Abgabenbelastung immer noch weit tiefer als in der EU. Die Einnahmen von je nach Modell 1,5 bis 3 Milliarden Franken jährlich gäben den Einheimischen beste Anreize, für Offenheit und gute Politik einzustehen.

Dieser Beitrag ist in ähnlicher Form erschienen
– in kurzer Form (8 Denkfallen) in: SonntagsZeitung, 6.9.2020, S. 22
– in voller Form (20 Denkfallen) auf: Tagesanzeiger.ch , 6.9.2020

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über den Autor
Reiner Eichenberger
Professor für Theorie der Finanz- und Wirtschaftspolitik, Universität Freiburg
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