Personenfreizügigkeit NEIN, Offenheit JA

Die Schweiz soll ihren Einwohnern grösstmögliche Lebensqualität und Offenheit bieten. Die Personenfreizügigkeit verhindert beides. Die bisherige Diskussion zielt stark auf die Wirkung der Personenfreizügigkeit im Arbeitsmarkt. Doch selbst wenn sie dort positiv wirkt, senkt sie die Lebensqualität in der Schweiz. Denn die Effekte wären nur nachhaltig, wenn alle Produktionsfaktoren zu konstanten Kosten vermehrbar und alle Märkte flexibel wären. Aber das sind sie nicht.

Das wahre Problem sind Füllungskosten durch das schnelle Bevölkerungswachstum. Dieses bringt Verknappung und Verteuerung von Land, Infrastruktur, Umweltgütern und Selbstversorgungszielen etwa für Nahrung und Energie. Ein Beispiel ist die Klimapolitik. Weil die Regierung die CO2-Reduktionsziele in nationalen Gesamtmengen statt pro Kopf festgelegt hat, macht es die Zuwanderung der Schweiz viel schwieriger und teurer, ihre Reduktionsziele zu erfüllen. Tatsächlich blähen viele Füllungskosten das Bruttoinlandprodukt sogar auf, so die Zubetonierung der Landschaft.

Die Füllungskosten sind dominant. Die hohe Lebensqualität in der Schweiz bringt bei Personenfreizügigkeit so lange hohe Zuwanderung, bis die Füllungskosten die Lebensqualität auf das Niveau der Herkunftsländer der Zuwanderer plus den Wanderungskosten gesenkt haben.

Resistente Füllungskosten

Infrastrukturausbau, Verdichtung und «grüner Verkehr» lösen die Füllungsproblem nicht. Beim schnellen Infrastrukturausbau steigen die Kosten überproportional. Zudem dauern Planung, Ausschreibungs- und Rechtsverfahren und Bau oft ewig lange. Beim Bau sinken die Kapazitäten oft über viele Jahre. So bringt der Ausbau einer Autobahn auf sechs Spuren viele Jahre massive Verkehrsbehinderungen.

Bauliche Verdichtung bringt ebenfalls überproportional steigenden Kosten und Immissionen durch Bau und Dichte. Zudem wirkt sie nur begrenzt. Beim heutigen Wachstum kann die Bevölkerung nur noch für wenige Jahre in Bauzonen hoher Qualität hineinverdichtet werden. Schon bald muss in unattraktiven Zonen gebaut und jährlich viel Land neu eingezont, oder die Zuwanderung rabiat gestoppt werden. Beides ist schlecht.

Der Ausbau von ÖV und Veloverkehr bringt der Allgemeinheit ebenfalls überproportional steigende Kosten. Diese Verkehrsträger leben schon heute stark von Subventionen. Müssten die ÖV- und Velobenützer die von ihnen verursachten Infrastruktur-, Betriebs-, Umwelt-, Lärm- und Unfallkosten selbst tragen, würden sie kaum noch mehr ÖV und Velo fordern.

Bisher unterliess es der Bund, die Kosten schnellen Bevölkerungswachstums angemessen abzuklären und kluge Gegenstrategien zu entwickeln. Er liess nur die fiskalischen Auswirkungen der Zuwanderung auf die Staatseinnahmen und -ausgaben untersuchen. Diese Studie von Nathalie Ramel und George Sheldon findet, dass langfristig betrachtet die heutige EU-Zuwanderung den Staat eher belastet. Dabei nimmt das Autorenteam an, dass zwar die Staatseinnahmen parallel zur Bevölkerung wachsen, hingegen ein gewichtiger Teil der Ausgaben, u.a. für Verteidigung, Polizei, Justiz, Kultur und Entwicklungshilfe, fix sind und nicht mit der Einwohnerzahl wachsen. Mit realistischen Annahmen wären die Ergebnisse für die Personenfreizügigkeit deutlich negativer.

Lähmung der Schweizer Institutionen

Die hohe Lebensqualität der Schweiz beruht stark auf ihren politischen Institutionen. Direkte Demokratie, kleinräumiger Föderalismus und Milizprinzip bringen bürgernahe Politik, Eigenverantwortung und Vertrauen zwischen Bürger und Staat. Die fruchtbare Wirkung der direkte Demokratie dürfte jedoch abnehmen, wenn ein steigender Anteil der Bevölkerung keine demokratische Rechte hat. Heute ist der Ausländeranteil unter den 30- bis 35-jährigen schon über 40 Prozent, und in manchen Kantonen über 50 Prozent. Mit der hohen Zuwanderung wachsen auch Zahl und Umfang der Aufgaben, die heute im Milizprinzip durch Schweizer erfüllt werden müssen, etwa wenn infolge Einwohnerwachstums Gemeindeversammlungen durch Parlamente ersetzt werden. Die Rekrutierung von geeigneten Kandidaten wird auch deshalb immer schwieriger. Ähnlich wird es für Medien immer unattraktiver, über lokale Politik zu berichten, weil ein wachsender Teil ihrer Nutzer keine politischen Rechte und so nur wenig Interesse an lokaler Politik hat.

Natürlich können Füllungsprobleme durch kluge Politik entschärft werden. Dafür braucht es aber eine Regierung, die sich ihnen stellt. Dazu wiederum braucht es Wähler, die sich gute Politik wünschen. Doch die EU-Personenfreizügigkeit bricht die Anreize der Normalbürger, für gute Politik einzustehen. Denn die Füllungskosten zwingen die Lebensqualität in der Schweiz immer wieder auf das Niveau der Herkunftsländer plus den Wanderungskosten.

Weg ins Abseits

Die Personenfreizügigkeit schadet auch der EU. Die dringenden Reformen der Arbeitsmärkte bleiben aus, weil oft Zuwanderer die neu entstehenden Stellen füllen würden.  Deshalb ist die Personenfreizügigkeit innerhalb der EU de facto weitgehend ausgehebelt.

Personenfreizügigkeit heisst freie Wanderung für Personen, die in anderen EU-Ländern arbeiten wollen. Dazu müssen sie diskriminierungsfrei und marktgerecht Zugang zu Arbeitsstellen und Wohnraum haben. In vielen EU-Ländern haben sie das nicht. Zwar ist es verboten, gezielt EU-Ausländer zu diskriminieren. Umso stärker ist die Diskriminierung der „Outsider“, der Zuwanderer plus der eigenen Jungen. Die „Insider“ – diejenigen mit Arbeitsstelle und Wohnung – werden vor Kündigung, Lohn- und Mietdruck so stark geschützt, dass die Anreize der Investoren schrumpfen, Arbeitsstellen und Wohnungen für Outsider zu schaffen. Deshalb gibt es in vielen EU-Ländern praktisch keine Zuwanderung und sind die Lebenschancen der Jungen tief: Jugendarbeitslosigkeit, jahrelange Praktika, leben bei den Eltern bis weit über 30, etc. Mit Personenfreizügigkeit droht dieser Weg ins Abseits auch der Schweiz. Auch die immer schärferen flankierenden Massnahmen im Arbeits- und Wohnraummarkt wollen die Insider gegenüber den Outsidern schützen und opfern damit die eigene Jugend. Noch schädlicher wirken kantonale oder gesamtarbeitsvertragliche Mindestlöhne. Sie locken hochqualifizierte Zuwanderer an, gegenüber denen manche eher schlecht qua­lifizierte einheimische Arbeitnehmer chancenlos sind.

Überschätzte Bilaterale I

Viele fürchten, mit der EU-Personenfreizügigkeit entfiele das ganze Vertragspaket Bilaterale I. Dabei berufen sie sich auf vom Bund beauftragte Analysen zur Wirkung der Bilateralen I, zumeist auf eine Studie von Ecoplan von 2015. Diese untersucht die Auswirkungen eines Wegfalls der Bilateralen I bis 2035, falls es keinen Ersatz für die Verträge gäbe. Immer wieder wird behauptet, diese Studie zeige, dass ohne Bilaterale I die Wirtschaftsleistung bis 2035 um 4,9 Prozent sinken würde. Tatsächlich aber zeigt sie eindrücklich, dass die verschiedenen Teilverträge der Bilateralen I der Wirtschaft nur wenig nützen und der allergrösste Teil ihrer Wirkung aus dem Bevölkerungswachstum resultiert. Pro Einwohner sind die Effekte praktisch vernachlässigbar: Bei einer Kündigung der Personenfreizügigkeit und der Bilateralen I würde das Einkommen pro einheimische Arbeitskraft bis 2035 nur um total 0,7 Prozent weniger wachsen – statt um knapp 10 nur um gut 9 Prozent. Die kleinen gefundenen Nutzen der Bilateralen I und damit kleinen Kosten ihrer Kündigung sind umso bemerkenswerter, als dass sie auf sehr Bilateralen-freundlichen Annahmen beruhen, etwa dass die Firmen einfachste Anpassungsmöglichkeiten an die neuen Bedingungen (etwa durch Gründung von EU-Niederlassungen) nicht nutzen und das hohe Bevölkerungswachstum keinerlei Füllungseffekte verursacht.

Blick nach vorne

Die Personenfreizügigkeit schadet denen, für die die reale Lebensqualität zählt. Gewinner sind hingegen diejenigen, die vom Bevölkerungswachstum profitieren. Dazu zählen auch Politiker und Verbandskader, deren Budgets und Mitgliederbeiträge wachsen. Deshalb sollten wir endlich der Realität ins Auge schauen. Wir sind Europäer, aber mit globaler Zukunft. Die EU schrumpft und ihr Reformbedarf ist riesig. Wir müssen deshalb einen eigenen liberaleren, menschlicheren und nachhaltigeren Weg beschreiten. Dafür brauchen wir zugleich grösste Offenheit bei Handel und Kooperation, aber kluge Begrenzung und Lenkung der Zuwanderung.

Wir müssen die EU-Personenfreizügigkeit beenden und die Zuwanderung wieder selbst steuern, am besten mit einer Zuwanderungsabgabe: Die Zuwanderung soll möglichst frei von bürokratischen Hürden sein, aber Neuzuwanderer sollen während einigen Jahren eine kleine finanzielle Zusatzabgabe leisten, ähnlich einer Kurtaxe. Damit wäre ihre Steuer- und Abgabenbelastung immer noch weit tiefer als in der EU, aber die Einnahmen von je nach Modell 1,5 bis 4 Milliarden Franken jährlich gäben den Einheimischen beste Anreize, für Offenheit und gute Politik einzustehen.

Dieses Vorgehen könnten wir unseren europäischen Freunden gut schmackhaft machen. Erstens könnte ein kleiner Teil des Abgabenaufkommens an Brüssel fliessen «zur Abgeltung des Brain Drains». Zweitens sollte der Bund einen Index der realen Personenfreizügigkeit in Europa erstellen lassen. Dieser misst, wie leicht es für Zuwanderer ist, angemessene Arbeitsstellen und Wohnungen zu finden und wie gross die Insider-Outsider Diskriminierung ist. So kann die faktische Diskriminierung von Zuwanderern in der EU und der Schweiz verglichen werden. Wetten, dass die Schweiz auch mit selbstgesteuerter Zuwanderung noch weit mehr reale Personenfreizügigkeit hätte als die meisten EU-Länder?

Elemente dieses Beitrags (4800 Anschläge) sind erschienen in NZZ, 3.9.2020

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über den Autor
Reiner Eichenberger
Professor für Theorie der Finanz- und Wirtschaftspolitik, Universität Freiburg
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